Freitag, 22. Februar 2008

Hans Blumenberg: Emigrierte Götter

Epikur sagte, die Götter wohnten in den Zwischenräumen der Welten

Er erreichte damit zweierlei: Die Götter kümmerten sich nicht um die Welten, hatten ihnen den Rücken zugekehrt und verschafften sich so ihre glückliche Sorglosigkeit; wenn aber sie sich nicht sorgten, brauchte auch der Mensch um sie sich nicht zu kümmern, da er von ihnen nichts zu erwarten hatte. Zwischen den Welten lag der leere Raum, und leerer Raum war die einzige Möglichkeit für die Griechen, sich das Nichtseiende zu denken, so daß, was dort wohnte, paradoxerweise zugleich überhaupt nicht existierte.

Wir haben die Theologie des Epikur nicht mehr. Wir sind daher frei, uns selbst zu denken, wie es zu dem riskanten Aufenthalt der Götter in den Intermundien gekommen war. Denn anzunehmen, sie hätten dort von allem Anbeginn her gewohnt, wäre wohl eine Unterschätzung der Geschichte, die da erzählt werden muß. Ganz abgesehen davon, daß sich die Griechen nicht so leicht hätten gefallen lassen, ihre auf dem Olymp seßhaften Götter durch eine bloße Behauptung in den leeren Raum zu versetzen, wenn es dafür nicht eine solide Geschichte gab.

Ich traue Epikur zu, diese Geschichte irgendwo in seiner Theologie erzählt zu haben. Danach hätten die Götter den Olymp und die Erde und diesen Kosmos verlassen, um sich in jene unendlichen leeren Räume zurückzuziehen, vor denen so viel später Pascal erschrecken sollte.

Aber weshalb waren sie ausgezogen? Auf dem Olymp hatten sie ein Leben voller Annehmlichkeiten gelebt: Nektar, Ambrosia, subtile Streitigkeiten um die Angelegenheiten der Menschen dort unten und durch ihre Künste der Metamorphose der jederzeitige Zugang zu irdischem Lustgewinn. Es gab keinen Grund auszusteigen.

Oder doch? Es muß auf ihren wolkenumhangenen Berg eine Nachricht, eine Kunde gedrungen sein, die es ihnen gründlich und endgültig verleitete, dort zu residieren und auf eine Welt herabzuschauen, die sie mit der schlichten Einfalt von Göttern für die einzige gehalten hatten.

Epikur weiß, welche Nachricht das war, und er hat sie zum Triumph seiner atomistischen Philosophie gemacht: Es gibt unendlich viele Welten.

Dann ergab sich alles andere von selbst. In keiner dieser Welten hätten die Götter es aushalten können, weil alle einander gleich waren und keine einen Vorzug anbieten konnte, der sie vor den anderen der Ansässigkeit der Götter würdig gemacht hätte. So zogen sie in die Reinheit der Indifferenz des leeren Raumes.

Man wird die Geschichte nicht so auffassen dürfen, daß die Götter erst durch einen Philosophen der atomistischen Schule wie Demokrit oder Epikur belehrt worden wären, daß die von ihnen bis dahin beherrschte Welt nur eine unter unendlich vielen war. Hätte ihre Weisheit von den Philosophen abgehangen, brauchten sie nur dem Aristoteles zu glauben, der für die Einzigkeit dieses Kosmos, in dem alles, was ist, seinen Platz hat, die erhabensten Gründe gefunden hatte. Wie Plato den Demokrit, so überwand Aristoteles mit seiner Nachwirkung die Welten des Epikur. Zuletzt durch den Gott, der sich selbst widersprochen hätte, mehr als eine Welt erschaffen zu haben und erlösen zu müssen.

Nein, die Olympischen müssen früher von der großen Wahrheit der Nichteinzigkeit dieser Welt erfahren haben. Als die Philosophen kamen und dies erfolglos zu lehren begannen, hatte die Wirkung der Götter auf die Menschen schon so nachgelassen, daß man es nur mit ihrem vollzogenen Abgang in die Weltzwischenräume erklären kann. Es war Epikur, der sie dort wiederfand und sogar erklären konnte, weshalb sie nur dort sein konnten — wenn überhaupt.

Das Einzige, was ihnen aus ihrer hellenischen Heimat geblieben ist und das, was auch Menschen aus ihren Heimaten am längsten bleibt und sie lebenslang zu Fremden in der Fremde macht: die Sprache. Noch fern allen Welten, in den Intermundien, führen die Götter ihre unendlichen Gespräche — griechisch. Epikur hat es gehört. Denn nichts geht in seiner atomistischen Welt verloren: die Bilderchen nicht, die sich von allem ablösen und den Raum durchwandern, um bei uns >Erkenntnis< zu werden, und nicht die gesprochenen Worte. Was sollte auch aus dem werden, was nicht bleibt?

Hans Blumenberg in: Die Vollzähligkeit der Sterne

Dienstag, 29. Januar 2008

Die Namen der Totenrichter

Die Namen der Totenrichter

Nun weiß dieser Sokrates, der immer von sich behauptete, nichts anderes zu wissen als, daß er nichts wisse, sogar die Namen der Richter im Tribunal über die Toten: Minos, Rhadamanthys, Aiakos und Triptolemos. Er nennt sie in seiner »Apologie« in dem Mythos, mit dem der Dialog »Gorgias« schließt, dem einzigen Mythos übrigens, dem Plato die ganze Wahrheit des Logos zusprechen läßt.
Der Mythos vom Totengericht hat einen eigenen Mythos von seiner Wandlung. Nicht immer war erst über die Toten Gericht gehalten worden. Wie vieles andere hatte sich auch dieses mit der Ablösung der Göttergenerationen, von der des Kronos und seinen Titanen zu der des Zeus, geändert. In jener titanischen Vorzeit waren die Menschen am Tage ihres Todes von menschlichen Richtern geprüft und je nach Befund entweder auf die Inseln der Seligen oder in die Unterwelt der Schatten geschickt worden. Als Zeus zur Herrschaft gekommen war, gab es, wie bei Machtwechseln sonst auch, Klagen über ungerechte Urteile, mangelnde Durchsicht der Richter.
Der neue Gott schuf ein neues Verfahren und ließ erst die Verstorbenen durch gleichfalls schon dem Leben und seinen Befangenheiten entzogene Richter aburteilen. Nun gibt es die schiere Durchsichtigkeit. Alle Hüllen sind gefallen, Nacktheit steht gegen Nacktheit, keine Rhetorik vermag Einfluß auf das Gericht zu nehmen. Es ist die mythische Darstellung des Sieges der sokratischen Kritik an der sophistischen Rhetorik, die ihre Macht nur unter den Bedingungen der Undurchsichtigkeit des Leibes auszuüben vermochte.
Die christliche Dogmatik hat den Mythos von der Gerichtsreform des Zeus nur teilweise rückgängig gemacht. Auch für die theologische Eschatologie ist entscheidend, daß der Glaubende den Namen seines Richters weiß. Es gehört zu den Subtilitäten dieses dogmatischen Kapitels, daß nicht der Vater Weltschöpfer das große Gericht abhält, sondern der Sohn: der Menschensohn aus Nazareth, der zum Tag des Gerichts sein Wiederkommen auf den Wolken des Himmels verheißen hatte. Ursprünglich waren die, die vor ihm zu erscheinen hatten, die noch lebenden Empfänger dieser Verheißung gewesen. Erst später, mit dem Terminverzug des Weltendes, wurden es die in ihren Leibern durch die Gerichtsposaune Auferweckten.
Der Rigorismus der Gerichtsidee erscheint gemildert durch die Leiblichkeit auf beiden Seiten als das Gemeinsame zwischen dem menschgewordenen Richtergott und den von ihm zu Richtenden. Der Urteilsspruch stand ohnehin im Buch des Lebens fest. Wie die Freisprüche, die der Apostel im Brief an die Römer durch den Glauben an Tod und Auferstehung des Heilbringers verbürgt sein läßt. Dieser Gedanke von der "Rechtfertigung" als dem präsumtiven Freispruch hängt mit der Überzeugung des gesetzestreu gewesenen Pharisäers zusammen, daß Furcht vor Strafe wie Hoffnung auf Lohn die Gesinnung der Gesetzeserfüllung korrumpieren. Nun muß man sich fragen, ob mit diesen Wandlungen der Grundidee ihre Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wäre dies so gewesen, hätte Nietzsche nicht seine bedeutende Variante unter dem klassischen Titel der »Hadesfahrt« hinzufügen können Der noch Lebende sieht sich unter den Augen von ihm gewählter Totenrichter. Er existiert und beurteilt sich in ihrer vorgestellten Gegenwart und nach ihren Maßstäben. Auch er sei, wie Odysseus, in der Unterwelt gewesen und werde es noch öfter sein, gibt Nietzsche für sich selbst bekannt. Dabei habe er vier Namens- paare ausgewählt, von denen er sich Recht und Unrecht vorgeben lassen wolle: Was ich auch nur sage, beschließe, für mich und Andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet.
Es ist der in der Epoche Individualität möglich gewordene Gedanke, jeder erwähle sich die zu Totenrichtern, die ihm die Nächsten bei der Bestimmung seines Selbst geworden sind oder werden können. So wird es ein Mythos von der Ethik als der Entscheidung für und über jedes Dasein. Sie mag nicht immer so entschieden und weiträumig zu ihren Namen kommen, wie es bei Nietzsche geschieht. Er nennt für sich diese: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau Pascal und Schopenhauer
Gesehen ist ganz auf den Rang der Figuren, nicht auf die Inhalte ihres Denkens. Sonst könnte Plato nicht darunter sein; aber auch Pascal und Rousseau nicht. Wenn Epikur als erster genannt wird, ist das kaum zufällig, denn er hat den elementaren Gedanken in die Welt seines Schulgartens eingeführt, als er in einem Brief die Formel des Imperativs erfand: Sic fac omnia, tamquam spectet Epicurus! Frei und in Anlehnung an Kants Formular des kategorischen Imperativs übersetzt heißt das: Handle so, daß die Maxime deines Handelns von Epikur gebilligt würde!
Ein Paradox mag bei der Sache bleiben: Vielleicht benötigt einer ein ganzes Leben, um die Namen seiner Totenrichter zu finden — dasselbe « Leben, für das er sie schon hätte gefunden haben müssen, um der zu sein, als der er sich vor ihrem Urteil zu bewähren hätte. Man muß sie also nicht nur finden und bestellen, sondern dies auch rechtzeitig tun. Dazu mag es gut sein, nicht zu spät mit der Philosophie zu beginnen Das Paradox führt zurück auf Sokrates.

Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne