Dienstag, 29. Januar 2008

Die Namen der Totenrichter

Die Namen der Totenrichter

Nun weiß dieser Sokrates, der immer von sich behauptete, nichts anderes zu wissen als, daß er nichts wisse, sogar die Namen der Richter im Tribunal über die Toten: Minos, Rhadamanthys, Aiakos und Triptolemos. Er nennt sie in seiner »Apologie« in dem Mythos, mit dem der Dialog »Gorgias« schließt, dem einzigen Mythos übrigens, dem Plato die ganze Wahrheit des Logos zusprechen läßt.
Der Mythos vom Totengericht hat einen eigenen Mythos von seiner Wandlung. Nicht immer war erst über die Toten Gericht gehalten worden. Wie vieles andere hatte sich auch dieses mit der Ablösung der Göttergenerationen, von der des Kronos und seinen Titanen zu der des Zeus, geändert. In jener titanischen Vorzeit waren die Menschen am Tage ihres Todes von menschlichen Richtern geprüft und je nach Befund entweder auf die Inseln der Seligen oder in die Unterwelt der Schatten geschickt worden. Als Zeus zur Herrschaft gekommen war, gab es, wie bei Machtwechseln sonst auch, Klagen über ungerechte Urteile, mangelnde Durchsicht der Richter.
Der neue Gott schuf ein neues Verfahren und ließ erst die Verstorbenen durch gleichfalls schon dem Leben und seinen Befangenheiten entzogene Richter aburteilen. Nun gibt es die schiere Durchsichtigkeit. Alle Hüllen sind gefallen, Nacktheit steht gegen Nacktheit, keine Rhetorik vermag Einfluß auf das Gericht zu nehmen. Es ist die mythische Darstellung des Sieges der sokratischen Kritik an der sophistischen Rhetorik, die ihre Macht nur unter den Bedingungen der Undurchsichtigkeit des Leibes auszuüben vermochte.
Die christliche Dogmatik hat den Mythos von der Gerichtsreform des Zeus nur teilweise rückgängig gemacht. Auch für die theologische Eschatologie ist entscheidend, daß der Glaubende den Namen seines Richters weiß. Es gehört zu den Subtilitäten dieses dogmatischen Kapitels, daß nicht der Vater Weltschöpfer das große Gericht abhält, sondern der Sohn: der Menschensohn aus Nazareth, der zum Tag des Gerichts sein Wiederkommen auf den Wolken des Himmels verheißen hatte. Ursprünglich waren die, die vor ihm zu erscheinen hatten, die noch lebenden Empfänger dieser Verheißung gewesen. Erst später, mit dem Terminverzug des Weltendes, wurden es die in ihren Leibern durch die Gerichtsposaune Auferweckten.
Der Rigorismus der Gerichtsidee erscheint gemildert durch die Leiblichkeit auf beiden Seiten als das Gemeinsame zwischen dem menschgewordenen Richtergott und den von ihm zu Richtenden. Der Urteilsspruch stand ohnehin im Buch des Lebens fest. Wie die Freisprüche, die der Apostel im Brief an die Römer durch den Glauben an Tod und Auferstehung des Heilbringers verbürgt sein läßt. Dieser Gedanke von der "Rechtfertigung" als dem präsumtiven Freispruch hängt mit der Überzeugung des gesetzestreu gewesenen Pharisäers zusammen, daß Furcht vor Strafe wie Hoffnung auf Lohn die Gesinnung der Gesetzeserfüllung korrumpieren. Nun muß man sich fragen, ob mit diesen Wandlungen der Grundidee ihre Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wäre dies so gewesen, hätte Nietzsche nicht seine bedeutende Variante unter dem klassischen Titel der »Hadesfahrt« hinzufügen können Der noch Lebende sieht sich unter den Augen von ihm gewählter Totenrichter. Er existiert und beurteilt sich in ihrer vorgestellten Gegenwart und nach ihren Maßstäben. Auch er sei, wie Odysseus, in der Unterwelt gewesen und werde es noch öfter sein, gibt Nietzsche für sich selbst bekannt. Dabei habe er vier Namens- paare ausgewählt, von denen er sich Recht und Unrecht vorgeben lassen wolle: Was ich auch nur sage, beschließe, für mich und Andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet.
Es ist der in der Epoche Individualität möglich gewordene Gedanke, jeder erwähle sich die zu Totenrichtern, die ihm die Nächsten bei der Bestimmung seines Selbst geworden sind oder werden können. So wird es ein Mythos von der Ethik als der Entscheidung für und über jedes Dasein. Sie mag nicht immer so entschieden und weiträumig zu ihren Namen kommen, wie es bei Nietzsche geschieht. Er nennt für sich diese: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau Pascal und Schopenhauer
Gesehen ist ganz auf den Rang der Figuren, nicht auf die Inhalte ihres Denkens. Sonst könnte Plato nicht darunter sein; aber auch Pascal und Rousseau nicht. Wenn Epikur als erster genannt wird, ist das kaum zufällig, denn er hat den elementaren Gedanken in die Welt seines Schulgartens eingeführt, als er in einem Brief die Formel des Imperativs erfand: Sic fac omnia, tamquam spectet Epicurus! Frei und in Anlehnung an Kants Formular des kategorischen Imperativs übersetzt heißt das: Handle so, daß die Maxime deines Handelns von Epikur gebilligt würde!
Ein Paradox mag bei der Sache bleiben: Vielleicht benötigt einer ein ganzes Leben, um die Namen seiner Totenrichter zu finden — dasselbe « Leben, für das er sie schon hätte gefunden haben müssen, um der zu sein, als der er sich vor ihrem Urteil zu bewähren hätte. Man muß sie also nicht nur finden und bestellen, sondern dies auch rechtzeitig tun. Dazu mag es gut sein, nicht zu spät mit der Philosophie zu beginnen Das Paradox führt zurück auf Sokrates.

Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne