Montag, 28. September 2009

tempus fugit, vita fugit (Sonne und Mond)

Die Sonne ist weder fern noch nah. Aber sie ist längst da, ehe sie aufgeht, und noch da, wenn sie schon untergegangen ist (...). Der Mond ist nie da, ehe er aufgegangen ist; er ist immer nur er selbst in seiner sanften Gegenwart, die sich ohne Blendung anschauen läßt (...). Sonne und Mond sind nicht einfach die Gestirne von Tag und Nacht, als seien die Zuständigkeiten säuberlich und konfliktfrei aufgeteilt. In Wahrheit besteht eine unerbittliche Rivalität zwischen ihnen. Die Sonne ist die Feindin des Mondes, dem sie widerwillig ihr Licht leiht, und der Mond der zwar milde, doch entschiedene Widerspruch gegen die Sonne, die ihre Peitsche über der Tageswelt und ihrer Geschäftigkeit schwingt.
Hans Blumenberg: Der Mond als poetische Erscheinung (Die Vollzähligkeit der Sterne)

N.B.:
Metaphorologie erfordert auch, eine Metapher fallen zu lassen, wenn sie die Sache (den Tatbestand) nicht (mehr) trifft.
Arme Sonne, wer wärmt sie? Wer leuchtet sie an? Vita fugit... Der kleine Mond, muss sich zusammenraffen, und zurückstrahlen, wer weiss, vielleicht genügt ein Lächeln, beeil dich, kleines Nachtgestirn, tempus fugit...

Freitag, 22. Februar 2008

Hans Blumenberg: Emigrierte Götter

Epikur sagte, die Götter wohnten in den Zwischenräumen der Welten

Er erreichte damit zweierlei: Die Götter kümmerten sich nicht um die Welten, hatten ihnen den Rücken zugekehrt und verschafften sich so ihre glückliche Sorglosigkeit; wenn aber sie sich nicht sorgten, brauchte auch der Mensch um sie sich nicht zu kümmern, da er von ihnen nichts zu erwarten hatte. Zwischen den Welten lag der leere Raum, und leerer Raum war die einzige Möglichkeit für die Griechen, sich das Nichtseiende zu denken, so daß, was dort wohnte, paradoxerweise zugleich überhaupt nicht existierte.

Wir haben die Theologie des Epikur nicht mehr. Wir sind daher frei, uns selbst zu denken, wie es zu dem riskanten Aufenthalt der Götter in den Intermundien gekommen war. Denn anzunehmen, sie hätten dort von allem Anbeginn her gewohnt, wäre wohl eine Unterschätzung der Geschichte, die da erzählt werden muß. Ganz abgesehen davon, daß sich die Griechen nicht so leicht hätten gefallen lassen, ihre auf dem Olymp seßhaften Götter durch eine bloße Behauptung in den leeren Raum zu versetzen, wenn es dafür nicht eine solide Geschichte gab.

Ich traue Epikur zu, diese Geschichte irgendwo in seiner Theologie erzählt zu haben. Danach hätten die Götter den Olymp und die Erde und diesen Kosmos verlassen, um sich in jene unendlichen leeren Räume zurückzuziehen, vor denen so viel später Pascal erschrecken sollte.

Aber weshalb waren sie ausgezogen? Auf dem Olymp hatten sie ein Leben voller Annehmlichkeiten gelebt: Nektar, Ambrosia, subtile Streitigkeiten um die Angelegenheiten der Menschen dort unten und durch ihre Künste der Metamorphose der jederzeitige Zugang zu irdischem Lustgewinn. Es gab keinen Grund auszusteigen.

Oder doch? Es muß auf ihren wolkenumhangenen Berg eine Nachricht, eine Kunde gedrungen sein, die es ihnen gründlich und endgültig verleitete, dort zu residieren und auf eine Welt herabzuschauen, die sie mit der schlichten Einfalt von Göttern für die einzige gehalten hatten.

Epikur weiß, welche Nachricht das war, und er hat sie zum Triumph seiner atomistischen Philosophie gemacht: Es gibt unendlich viele Welten.

Dann ergab sich alles andere von selbst. In keiner dieser Welten hätten die Götter es aushalten können, weil alle einander gleich waren und keine einen Vorzug anbieten konnte, der sie vor den anderen der Ansässigkeit der Götter würdig gemacht hätte. So zogen sie in die Reinheit der Indifferenz des leeren Raumes.

Man wird die Geschichte nicht so auffassen dürfen, daß die Götter erst durch einen Philosophen der atomistischen Schule wie Demokrit oder Epikur belehrt worden wären, daß die von ihnen bis dahin beherrschte Welt nur eine unter unendlich vielen war. Hätte ihre Weisheit von den Philosophen abgehangen, brauchten sie nur dem Aristoteles zu glauben, der für die Einzigkeit dieses Kosmos, in dem alles, was ist, seinen Platz hat, die erhabensten Gründe gefunden hatte. Wie Plato den Demokrit, so überwand Aristoteles mit seiner Nachwirkung die Welten des Epikur. Zuletzt durch den Gott, der sich selbst widersprochen hätte, mehr als eine Welt erschaffen zu haben und erlösen zu müssen.

Nein, die Olympischen müssen früher von der großen Wahrheit der Nichteinzigkeit dieser Welt erfahren haben. Als die Philosophen kamen und dies erfolglos zu lehren begannen, hatte die Wirkung der Götter auf die Menschen schon so nachgelassen, daß man es nur mit ihrem vollzogenen Abgang in die Weltzwischenräume erklären kann. Es war Epikur, der sie dort wiederfand und sogar erklären konnte, weshalb sie nur dort sein konnten — wenn überhaupt.

Das Einzige, was ihnen aus ihrer hellenischen Heimat geblieben ist und das, was auch Menschen aus ihren Heimaten am längsten bleibt und sie lebenslang zu Fremden in der Fremde macht: die Sprache. Noch fern allen Welten, in den Intermundien, führen die Götter ihre unendlichen Gespräche — griechisch. Epikur hat es gehört. Denn nichts geht in seiner atomistischen Welt verloren: die Bilderchen nicht, die sich von allem ablösen und den Raum durchwandern, um bei uns >Erkenntnis< zu werden, und nicht die gesprochenen Worte. Was sollte auch aus dem werden, was nicht bleibt?

Hans Blumenberg in: Die Vollzähligkeit der Sterne

Dienstag, 29. Januar 2008

Die Namen der Totenrichter

Die Namen der Totenrichter

Nun weiß dieser Sokrates, der immer von sich behauptete, nichts anderes zu wissen als, daß er nichts wisse, sogar die Namen der Richter im Tribunal über die Toten: Minos, Rhadamanthys, Aiakos und Triptolemos. Er nennt sie in seiner »Apologie« in dem Mythos, mit dem der Dialog »Gorgias« schließt, dem einzigen Mythos übrigens, dem Plato die ganze Wahrheit des Logos zusprechen läßt.
Der Mythos vom Totengericht hat einen eigenen Mythos von seiner Wandlung. Nicht immer war erst über die Toten Gericht gehalten worden. Wie vieles andere hatte sich auch dieses mit der Ablösung der Göttergenerationen, von der des Kronos und seinen Titanen zu der des Zeus, geändert. In jener titanischen Vorzeit waren die Menschen am Tage ihres Todes von menschlichen Richtern geprüft und je nach Befund entweder auf die Inseln der Seligen oder in die Unterwelt der Schatten geschickt worden. Als Zeus zur Herrschaft gekommen war, gab es, wie bei Machtwechseln sonst auch, Klagen über ungerechte Urteile, mangelnde Durchsicht der Richter.
Der neue Gott schuf ein neues Verfahren und ließ erst die Verstorbenen durch gleichfalls schon dem Leben und seinen Befangenheiten entzogene Richter aburteilen. Nun gibt es die schiere Durchsichtigkeit. Alle Hüllen sind gefallen, Nacktheit steht gegen Nacktheit, keine Rhetorik vermag Einfluß auf das Gericht zu nehmen. Es ist die mythische Darstellung des Sieges der sokratischen Kritik an der sophistischen Rhetorik, die ihre Macht nur unter den Bedingungen der Undurchsichtigkeit des Leibes auszuüben vermochte.
Die christliche Dogmatik hat den Mythos von der Gerichtsreform des Zeus nur teilweise rückgängig gemacht. Auch für die theologische Eschatologie ist entscheidend, daß der Glaubende den Namen seines Richters weiß. Es gehört zu den Subtilitäten dieses dogmatischen Kapitels, daß nicht der Vater Weltschöpfer das große Gericht abhält, sondern der Sohn: der Menschensohn aus Nazareth, der zum Tag des Gerichts sein Wiederkommen auf den Wolken des Himmels verheißen hatte. Ursprünglich waren die, die vor ihm zu erscheinen hatten, die noch lebenden Empfänger dieser Verheißung gewesen. Erst später, mit dem Terminverzug des Weltendes, wurden es die in ihren Leibern durch die Gerichtsposaune Auferweckten.
Der Rigorismus der Gerichtsidee erscheint gemildert durch die Leiblichkeit auf beiden Seiten als das Gemeinsame zwischen dem menschgewordenen Richtergott und den von ihm zu Richtenden. Der Urteilsspruch stand ohnehin im Buch des Lebens fest. Wie die Freisprüche, die der Apostel im Brief an die Römer durch den Glauben an Tod und Auferstehung des Heilbringers verbürgt sein läßt. Dieser Gedanke von der "Rechtfertigung" als dem präsumtiven Freispruch hängt mit der Überzeugung des gesetzestreu gewesenen Pharisäers zusammen, daß Furcht vor Strafe wie Hoffnung auf Lohn die Gesinnung der Gesetzeserfüllung korrumpieren. Nun muß man sich fragen, ob mit diesen Wandlungen der Grundidee ihre Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wäre dies so gewesen, hätte Nietzsche nicht seine bedeutende Variante unter dem klassischen Titel der »Hadesfahrt« hinzufügen können Der noch Lebende sieht sich unter den Augen von ihm gewählter Totenrichter. Er existiert und beurteilt sich in ihrer vorgestellten Gegenwart und nach ihren Maßstäben. Auch er sei, wie Odysseus, in der Unterwelt gewesen und werde es noch öfter sein, gibt Nietzsche für sich selbst bekannt. Dabei habe er vier Namens- paare ausgewählt, von denen er sich Recht und Unrecht vorgeben lassen wolle: Was ich auch nur sage, beschließe, für mich und Andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet.
Es ist der in der Epoche Individualität möglich gewordene Gedanke, jeder erwähle sich die zu Totenrichtern, die ihm die Nächsten bei der Bestimmung seines Selbst geworden sind oder werden können. So wird es ein Mythos von der Ethik als der Entscheidung für und über jedes Dasein. Sie mag nicht immer so entschieden und weiträumig zu ihren Namen kommen, wie es bei Nietzsche geschieht. Er nennt für sich diese: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau Pascal und Schopenhauer
Gesehen ist ganz auf den Rang der Figuren, nicht auf die Inhalte ihres Denkens. Sonst könnte Plato nicht darunter sein; aber auch Pascal und Rousseau nicht. Wenn Epikur als erster genannt wird, ist das kaum zufällig, denn er hat den elementaren Gedanken in die Welt seines Schulgartens eingeführt, als er in einem Brief die Formel des Imperativs erfand: Sic fac omnia, tamquam spectet Epicurus! Frei und in Anlehnung an Kants Formular des kategorischen Imperativs übersetzt heißt das: Handle so, daß die Maxime deines Handelns von Epikur gebilligt würde!
Ein Paradox mag bei der Sache bleiben: Vielleicht benötigt einer ein ganzes Leben, um die Namen seiner Totenrichter zu finden — dasselbe « Leben, für das er sie schon hätte gefunden haben müssen, um der zu sein, als der er sich vor ihrem Urteil zu bewähren hätte. Man muß sie also nicht nur finden und bestellen, sondern dies auch rechtzeitig tun. Dazu mag es gut sein, nicht zu spät mit der Philosophie zu beginnen Das Paradox führt zurück auf Sokrates.

Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne

Sonntag, 9. Dezember 2007

Zeichen an Stirnen, Zeichen am Himmel

Die Physiognomik (...) erweist sich als Ausgeburt des Ausschreibens von Büchern aus Büchern. (...) Physiognomik ist das in Buchform geronnene Vorurteil, dessen sich das Handwerk des praktischen Lebens ohnehin ständig bedient.
Es liegt allzu nahe, ein des Ausdruck so überwältigend fähiges Organ, wie das menschliche Gesicht, zur Quelle der Erkenntnis dessen zu machen, was dahinter liegt; schließlich will das Gesicht dafür selbst genommen werden, wenigstens gelegentlich.
(...Lichtenberg notiert:) wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, wird man die Kinder aufhängen ehe sie die Taten getan haben, die den Galgen verdienen. (...) Lichtenberg sieht eine unmittelbare Verbindung zwischen dem von der Aufklärung mühsam zurückgedrängten Zeichenbedarf in und an der Natur und einem erneuten Zeichenbedarf an der menschlichen Erscheinung selbst: Jetzt sind es Zeichen an der Stirne, die man deuten will, ehemals waren es Zeichen am Himmel... Ihm entgeht nicht, dass diese Art von Zeichenbedarf nicht gleicherweise aus der Welt geschafft werden konnte, wie es mit der Deutung der Kometen gelungen war. Denn die Physiognomik verarbeitet nur, was immer schon geschieht. Was sie vortäuscht und womit sie verführt, ist nur der Grad der Sicherheit, den sie mit dem Aufputz der Theorie für sich in Anspruch nimmt. Der Kritiker, der Aufklärer, wird nicht verhindern, was nur den elementaren Sachverhalt aufschwellen lässt: wir urteilen stündlich aus dem Gesicht und irren stündlich.
Die Lesbarkeit der Welt, S. 200f

Dienstag, 5. Juni 2007

Eckhard Nordhofen: Zum Tode des Philosophen Hans Blumenberg

Hans Blumenberg, geboren am 13. Juli 1920 in Lübeck, gestorben am 28. März 1996 in Altenberge / Westfalen
Hans Blumenberg ist tot. Mit ihm verlieren wir das in Deutschland ungewöhnliche Beispiel eines Denkers, der literarisch philosophierte. Anders als etwa in Frankreich entwickelt bei uns der zünftige philosophische Schreiber nur ausnahmsweise diesen Ehrgeiz, und wenn ein Dichter sein Denken vorzeigt, ist er wie Botho Strauß schnell isoliert. Immer pflegt man im Land der Dichter und Denker zu wissen, mit wem man es zu tun hat, mit dem einen oder mit dem anderen.
Hans Blumenberg, der Philosoph der unendlichen Erzählung, ist es gewesen, der das Denken in Geschichten mit den Geschichten des Denkens in einer Weise amalgamiert hat, die es uns nicht mehr erlaubt, die Reviere zu scheiden. "Dichter beweisen nichts. Darin sind sie den Philosophen nicht unähnlich."
Was bewiesen werden könnte, das wäre die Wahrheit. Der einen Welt entspräche die eine, die wahre Theorie. Sie gibt es nicht. Blumenberg war ein Skeptiker, der scharfsinnige Zuchtmeister aller Sinnhuber. Aber er war ein skeptischer Skeptiker, skeptisch auch der eigenen Skepsis gegenüber. In einem kleinen Essay von 1981 über den "Sinnlosigkeitsverdacht" plädiert er für eine "Kontingenzkultur", gegen eine "unbestimmte Wut auf die Welt", die er für die Quelle des Totalitarismus hält. Wenn die Welt wert ist, zugrunde zu gehen, weil der totale Sinn verloren ist, dann darf nach total Schuldigen gesucht werden. Der skeptische Skeptiker ist aber, anders als der affirmative Skeptiker, nicht sicher, daß das "Ganze das Unwahre" ist (Adorno). Er ist gegen eine "Diskriminierung des Trostes". Blumenbergs seltsam schwebende Philosophie hat keine finalen Rezepturen. Doch sie weiß viele Geschichten. Aber warum werden sie erzählt und für wen? Auch Scheherazade mußte in jeder der Tausendundeinen Nächte eine neue Geschichte erzählen. Sie tat es, um am Leben zu bleiben.
Hans Blumenberg möchte konservieren. Alles muß aufgehoben, nichts soll vergessen werden. Vor allem die großen Fragen sollen nicht verschwinden, nur deshalb, weil sie nicht zu beantworten sind. In zwei Zeiten fragt er: "Was es gewesen ist, was wir wissen wollen". Die Frage steht noch im Präsens, immer noch wollen wir wissen, ihr Gegenstand aber ist in eine undeutliche Vergangenheit verwiesen. Der Erzähler ist erfüllt vom "Streben, die Ubiquität des Menschlichen präsent zu halten". Der unendliche, nächtliche Erzählstrom hat kein natürliches Ende. Sein Ende, der Tod, war von vornherein unnatürlich.
Hans Blumenberg war ein Renegat der Einzigkeit. Für ihn gab es mehr als nur eine Wirklichkeit. "Wirklichkeiten in denen wir leben", so hieß der Titel seines berühmten Reclam-Bändchens. Nicht die eine, große Geschichte galt es zu erzählen, sondern möglichst viele, möglichst alle. Daher sind seine Bücher gelehrte Schatzhäuser, reich und dick, die Bücher eines einzigartig Belesenen. Er war der Antipode des monadischen Systemdenkers, der die wahre Theorie der Welt womöglich auf den einen Punkt einer Weltformel kondensieren will. Die verlorene Einheit war für ihn das große Drama. Hat es sie je gegeben? Oder ist es nur unser einer und einziger Kopf, aus dem der Wunsch stammt, auch aus der Welt ein Unikum zu machen? Sowenig wir die wahre Theorie besitzen, so sehr steht jedes Leben unter dem ehernen Gesetz der Einzigartigkeit. Wir haben nur ein Leben und doch so viele Geschichten, so viele Theorien. Und jede tut so, als sei sie, wenn nicht die große, so doch eine kleine Welt: "Daß wir in mehr als einer Welt leben, ist die Formel für Entdeckungen, die die philosophische Erregung dieses Jahrhunderts ausmachen."
Als eine Idylle erzählt er die Geschichte von dem Försterstöchterlein, das "die Wege nicht kennt", die aus seiner Waldlichtung herausführen, weil es noch glauben kann, daß die Lichtung, seine Welt, die Welt ist. Das ist der Zauber des Singulars, Erinnerung an den Garten Eden: ein Leben - eine Welt, und beide sind so ziemlich gleich groß. Für alle aber, die mehr wissen als das Försterstöchterlein, wird die Idylle zur Tragödie.
Wie oft kommt es vor, daß wir ein Buch mit dem Gefühl beiseite legen, wirklich etwas gelernt zu haben? "Lebenszeit und Weltzeit" (1986) ist ein solches Buch. Es hebt am monströsen Beispiel Hitlers die mundane Versuchung ins Bewußtsein, die alle betrifft. Unser Denken streckt sich so unendlich viel weiter aus als unsere Physis. Es reicht von Alpha bis Omega, vom Urknall bis zum Wärmetod, und dieses selbe Bewußtsein ist dazu verurteilt, mit der Drohung zu leben, nach siebenzig, wenn's hoch kömmt, achtzig Jahren zu erlöschen. Nur weil es grenzenlos ist, stößt es hart auf den Tod. Blumenberg zeigt, welche fatalen Energien diese mundane Kränkung freisetzen kann. Zunächst hatte Hitler sich als Agent der Welt gesehen, von der "Vorsehung" auserwählt, das finale Reich zu errichten, ein Reich von eschatologisch tausend Jahren. Im Untergang will er die Weltzeit in sein eigenes Ende mit hineinreißen: "Wir können untergehen, aber wir werden eine Welt mitnehmen." Hitler und die anderen, Hitler und wir . . .
Wenn er schon selbst nicht unsterblich ist, so glaubt der blinde Faust, daß wenigstens " . . . die Spur von (s)einen Erdentagen, nicht in Äonen untergehn" soll. Das wäre der mildere Verlauf jener Krankheit, die aus der mundanen Kränkung der Lebenszeit entsteht. Alle wollen wir, denen der naive Passierschein in die ewige Seligkeit abhanden gekommen ist, den Tod kompensieren. Wir haben nicht die Zeit, nur die Frist. Blumenberg breitet das ganze Arsenal von Kompensationskniffen vor uns aus. Es ist so vielfältig, daß wir lernen, sie überall selbst zu entdecken: Der Schauspieler Jonathan Hartman, zu Lebzeiten ohne Ruhm, vermachte der Royal Shakespeare Company seinen Schädel unter der Bedingung, daß im Programmheft zu "Hamlet" der Satz erscheinen sollte: "Der Schädel des Spaßmachers Yorick wird vom Schädel Jonathan Hartmans dargestellt."
Von Blumenberg aufmerksam gemacht, lesen wir auch Goethes Schilderung der Kanonade von Valmy als Ersatzhandlung, als Kompensation. Wer schon die Geschichte nicht machen kann, kann immer noch der erste sein, der sie versteht, der den Umstehenden verkünden kann: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen." Immer kommt es darauf an, die eigene Epoche, die eigene Person prominent zu machen, ihr einen säkularen, noch besser, einen millenarischen Singular zu verschaffen, das Prädikat: Nie dagewesen. Blumenberg schärft uns den kritischen Blick auf die falschen Götter der Geschichte, die Epochenmacher und Zeitenrichter a la Hegel, der dieses Geschäft für die Profession des Philosophen hielt: "Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst." Mit Blumenberg werden wir mißtrauisch gegenüber Begriffsmünzern und Epochentäufern: Wer die Definitionshoheit über sein Zeitalter erobert hat, mag mit Vokabeln wie "Spätmarxismus" oder "nachmetaphysisches Zeitalter" die Köpfe regieren, nach Blumenberg wittern wir in solcher Herrschaft den Kompensationskniff, einen flauen Himmelsersatz.
Die Austreibung des Singulars ist Blumenbergs große Jagd. Um sie kreisen alle seine Bücher. Schon in "Die Legitimität der Neuzeit" hat er das Verlangen zurückgewiesen, von einem Einheitsgesichtspunkt aus den Legitimitätsausweis von allem und jedem zu fordern. Das Recht, sich nicht rechtfertigen zu müssen, war die große Eroberung der Neuzeit. Die damals (1966) regierenden avantgardistisch gestimmten Emanzipationsphilosophien, die von sich glauben wollten, sie dienten dem Sinn der Geschichte, gerieten unversehens in ein anti-neuzeitliches Licht. Blumenberg stellte die Neuzeit frei von einer total legitimierenden Sinnzuschreibung. Er ruft den Plural der geteilten Gewalten aus. Die Neuzeit lebt von vielen regionalen Legitimitäten.
Auch in der "Lesbarkeit der Welt" zieht Blumenberg gegen denselben Feind zu Felde, den Singular, den Absolutismus der einen Wirklichkeit. Die ganze Bibliothek von Babylon herauf und herunter verfolgt er eine Metapher. Seit es Bücher gibt, ist die Pointe im Umlauf, nicht die Bücher, die die Welt bedeuten, seien zu lesen, sondern die Welt selber sei die wahre Lektüre. "Zwischen den Büchern und der Wirklichkeit ist eine alte Feindschaft gesetzt." Auf welcher Seite stand Blumenberg? Auch "Die Lesbarkeit der Welt" ist ein Buch - über Bücher und die Welt.
Mit der "Arbeit am Mythos" (1979) wärmte Blumenberg den inzwischen flächendeckenden Mythenfrühling des Landes kräftig an. Der Fortschrittsstolz der Philosophie als der Vernunftreligion der Moderne sollte beschnitten, die Aufwärtsbewegung "Vom Mythos zum Logos" (Wilhelm Nestle) sollte bestritten werden. Diese Motive hat sein jüngerer Bruder im Geiste, Odo Marquard, mit seinem "Lob des Polytheismus" verstärkt. Das hat natürlich den Widerspruch aller gefunden, die an der Einheit der Vernunft, an ihrer wie immer schwierigen Orientierungsleistung und an ihrer Parteilichkeit für das gute Leben festhalten wollten.
Man fragt sich nun, warum ein Philosoph, der so sehr der pluralistischen, antimetaphysischen, relativistischen Zeitstimmung entspricht, nicht zum Meinungsführer und Trendsetter des multikulturellen Intellektuellenmilieus avanciert ist.
Die Mode wurde in Frankreich gemacht. Und niemand schien zu bemerken, wie sehr Derridas Dekonstruktivismus und Blumenbergs Metaphorologie verwandt sind. Beide stehen im Dienste dessen, was nicht gesagt werden kann, beide organisieren ihre Wendung zur Literatur als Demonstration gegen die Ansprüche des falschen Klartexts. Niemand versagte Hans Blumenberg den Respekt, aber Schule hat er nicht gemacht. Seine Texte sind keine Schullektüre, sie sind kontemplativ und wollen vom Leser nichts als den Verzicht auf schnelle Gewißheiten. Sie sind ungeeignet zur Gemeindebildung und liefern keine Programmatik. Auch war Blumenberg kein geselliges Temperament. Sein Leben war das eines Außenseiters, die meiste Zeit wohl wider Willen. Zuletzt führte er uns stolze Resignation vor. Seit den "Höhlenausgängen" im Jahre 1989 ist kein weiteres Werk von ihm mehr erschienen. Er hatte dem Publikum gekündigt.
Es heißt, er habe bis zu seinem Ende die Tagebücher Thomas Manns studiert, den er für so etwas wie einen älteren Bruder hielt. In einem Brief an Ada Kadelbach, die Leiterin des Lübecker Kulturamtes, noch fünfzehn Tage vor seinem tödlichen Herzinfarkt am 28. März in Altenberge bei der Stadt Münster (wo er von 1970 bis 1985 lehrte), heißt es: "Aber er (Th. Mann, E. N.) hat nun schon nobelpreisgewürdigt, Lübeck noch einmal besucht und am 7. September 1931 in St. Katharinen die Rede an die Jugend (der Welt) gehalten. Ich finde es wichtig, weil doch auch dies schon oder wieder eine der ,Versöhnungen' war. Weniger wichtig mag ihnen erscheinen, daß ich damals Thomas Mann zum ersten und einzigen Mal sah."
Auch Hans Blumenberg hätte Lübeck, die Stadt, in der er 1920 geboren wurde, wohl gerne noch einmal besucht. Wie die Brüder Mann hatte er, mit seiner Stadt, speziell mit dem Lübecker Katharineum, schlechte Erfahrungen gemacht. Anders als bei den Brüdern Mann waren seine schulischen Leistungen glänzend. Aber der Klassenprimus, der die traditionelle Abiturrede halten sollte, wird bei der Abiturfeier öffentlich gedemütigt. Blumenberg gehört wie Adorno und Wittgenstein zu den Philosophen, die, als Katholiken erzogen, erst durch die Nürnberger Rassengesetze zu Juden beziehungsweise "Halbjuden" gemacht wurden. Blumenberg selbst hat sich nicht als Jude gegeben. Nach dem Arbeitsdienst wird er für "wehrunwürdig" erklärt. Er verschwindet zunächst zum Theologiestudium in der Frankfurter Jesuitenhochschule St. Georgen, kehrt dann nach Lübeck zurück. 1944 wird er verhaftet. Es gelingt ihm, aus dem Konzentrationslager zu fliehen. Die Lübecker Familie seiner späteren Frau versteckt ihn bis zum Kriegsende.
Im letzten großen Buch "Höhlenausgänge" ist die Höhle die Metapher für den Singular. Daß wir aus der Höhle herausmußten, die uns wie ein Mutterleib den sicheren Schlaf möglich machte, war diesmal das Bild für den großen Verlust. "Im Schutz der Höhlen beginnt der Frühmensch mit einer neuen Form des Schlafes, des geborgenen Tiefschlafes, den sich kein anderes ,feindbezogenes' Lebewesen leisten kann."
Blumenberg lebte am Ende als ein anderer Höhlenmensch. In einer erschreckenden Inversion folgte er dem Ruf von Minervas Eule, die bekanntlich erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt, und machte die Nacht zu seiner Zeit, ein später Nachfahr des Nachtwächters Bonaventura. Nur wenn alles schlief, machte er Licht. Was für andere ein romantischer Topos bleibt, wurde seine Lebenszeit. Nur noch nachts lebte, las und schrieb er, zum Beispiel den Satz: "Mehr Licht! ist das eine unerläßliche Postulat der nie abgeschlossenen Menschwerdung. Nicht zu viel Licht! ist das andere, welches der Fluchtbewegung in die Höhle, der immerwährenden Lust zu den Schatten gegenzusteuern hat." Bücher mußten ihm so sehr die Menschen ersetzen, daß er schließlich, wie Henning Ritter berichtet, nicht mehr wußte, warum er veröffentlichen sollte. "Für wen eigentlich?" so soll er sich gefragt haben.
Daß es von Hans Blumenberg nur ein einziges Bild gibt, daß er jedes weitere Photo von sich untersagt hat, nehmen wir als seine letzte verschlüsselte Botschaft: Am liebsten wäre er unsichtbar geblieben, ganz hinter seinen Geschichten und Metaphern verschwunden wie jener chinesische Maler in dem Bild, das er selbst gemalt hatte. Das vernünftige Subjekt thematisiert nicht das Subjekt der Vernunft. Aber vom Propheten des Plurals gibt es ein Bild, ein einziges.

© DIE ZEIT 1996