Sonntag, 9. Dezember 2007

Zeichen an Stirnen, Zeichen am Himmel

Die Physiognomik (...) erweist sich als Ausgeburt des Ausschreibens von Büchern aus Büchern. (...) Physiognomik ist das in Buchform geronnene Vorurteil, dessen sich das Handwerk des praktischen Lebens ohnehin ständig bedient.
Es liegt allzu nahe, ein des Ausdruck so überwältigend fähiges Organ, wie das menschliche Gesicht, zur Quelle der Erkenntnis dessen zu machen, was dahinter liegt; schließlich will das Gesicht dafür selbst genommen werden, wenigstens gelegentlich.
(...Lichtenberg notiert:) wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, wird man die Kinder aufhängen ehe sie die Taten getan haben, die den Galgen verdienen. (...) Lichtenberg sieht eine unmittelbare Verbindung zwischen dem von der Aufklärung mühsam zurückgedrängten Zeichenbedarf in und an der Natur und einem erneuten Zeichenbedarf an der menschlichen Erscheinung selbst: Jetzt sind es Zeichen an der Stirne, die man deuten will, ehemals waren es Zeichen am Himmel... Ihm entgeht nicht, dass diese Art von Zeichenbedarf nicht gleicherweise aus der Welt geschafft werden konnte, wie es mit der Deutung der Kometen gelungen war. Denn die Physiognomik verarbeitet nur, was immer schon geschieht. Was sie vortäuscht und womit sie verführt, ist nur der Grad der Sicherheit, den sie mit dem Aufputz der Theorie für sich in Anspruch nimmt. Der Kritiker, der Aufklärer, wird nicht verhindern, was nur den elementaren Sachverhalt aufschwellen lässt: wir urteilen stündlich aus dem Gesicht und irren stündlich.
Die Lesbarkeit der Welt, S. 200f

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